Mehr sehen als der Arzt
Wenn man mal den Haustürschlüssel oder den Vornamen eines entfernten Bekannten vergisst, muss das nicht gleich Zeichen einer Erkrankung sein. Um aber eine beginnende Alzheimer-Demenz sicher ausschließen zu können, hat die jung diagnostics GmbH in Zusammenarbeit mit dem Fraunhofer-Institut MEVIS in Lübeck die Alzheimer-Risikodiagnostik ARDX© entwickelt. Damit gewinnen die Hamburger mit Computerunterstützung aus Standard-MRT-Bildern weit mehr entscheidende Informationen, als das ein Arzt mit bloßem Auge könnte.
Das Volumen des Hippocampus ist der entscheidende Marker. Ist es über das altersübliche Maß hinaus degeneriert, kann das ein Zeichen für den Beginn einer Alzheimer-Erkrankung sein. Dabei unterstützt ARDX© die Diagnose des Status Quo, Demenzerkrankungen vorhersagen kann man heute allerdings noch nicht. „ARDX© ist ein niederschwelliges Untersuchungsangebot für Menschen mit Gedächtnisstörungen, die befürchten, an einer frühen Alzheimer-Demenz zu leiden“, erklärt Dr. Lothar Spies, Geschäftsführer von jung diagnostics. Das Hamburger Unternehmen hat sich auf Dienstleistungen rund um die medizinische Bildanalyse spezialisiert, als weltweit erster Anbieter eine bildbasierte Alzheimer-Risikodiagnostik entwickelt und diese als zugelassenes Medizinprodukt in den Markt eingeführt.
Jeder Facharzt oder Neurologe, Psychiater oder Allgemeinarzt kann ARDX© anbieten. Dabei wird der Patient zuerst einem Gedächtnistest unterzogen und mit einem gängigen MRT-System radiologisch untersucht. Bei jung diagnostics werden die MRT-Bilddaten dann auf ausreichende Qualität geprüft und anschließend mit Hilfe des Computers analysiert – das heißt, der Datensatz des Patienten wird so deformiert, dass er optimal auf einen Standard-Kopf, einen so genannten Atlas passt. Die individuellen Eigenschaften des Gehirns bleiben dabei aber erhalten.
Im nächsten Schritt analysiert das Computerprogramm die abgebildeten Regionen des Gehirns Bildpunkt für Bildpunkt und erkennt sie als graue oder weiße Substanz bzw. Hirnflüssigkeit. Die Verteilung der grauen Substanz wird dann mit Hilfe mathematischer und statistischer Verfahren mit einem Kollektiv gesunder Probanden verglichen. Das Ergebnis wird schließlich in einem Report dokumentiert, den das Programm automatisch erstellt. Ganz ohne menschliche Kontrolle verlässt allerdings keiner davon das Labor. „Wir unterziehen jeden Report einer umfassenden Endkontrolle und prüfen die Ergebnisse auf Konsistenz“, erklärt Dr. Spies. „Dabei verwenden wir eine umfangreiche Liste von Plausibilitätskriterien.“
Außergewöhnliche Analyseleistung dank mathematischer Algorithmen
Der Algorithmus, der der außergewöhnlichen Analyseleistung von ARDX© zugrunde liegt, und den jung diagnostics für den Einsatz in der klinischen Routine weiterentwickelt hat, hat seinen Ursprung am Fraunhofer-Institut für Bildgestützte Medizin MEVIS in Lübeck. Hier arbeitet Prof. Dr. Herbert Thiele mit seinem Team in der Projektgruppe Bildregistrierung an neuen Möglichkeiten der computergestützen Analyse medizinischer Bilddaten. „Wir forschen für die Praxis“, betont der Projektkoordinator die Bedeutung der engen Kooperation von Wissenschaft und Industrie. Die Lübecker Projektgruppe ist bekannt für ihre Expertise im Bereich der Bildregistrierung. Gemeinsam mit dem Bremer Mutterinstitut erforscht und entwickelt sie zum Beispiel interaktive Assistenzsysteme für den klinischen Arbeitsalltag – unter anderem auch Algorithmen, mit deren Hilfe Computer medizinische Bilddaten auswerten und Risikofaktoren identifizieren.
Ursprung der Zusammenarbeit mit jung diagnostics war eine persönliche Begegnung bei einer Fachveranstaltung. „Wir haben damals sehr schnell den Entschluss gefasst, unsere Erfahrungen und unser Know-how in einem gemeinsamen Projekt zusammenzuführen“, erinnert sich Prof. Thiele, der besonders in der Zusammenarbeit mit kleinen und mittelständischen Unternehmen noch großes Potenzial sieht: „Wenn Firmen nur kleine oder gar keine Entwicklungsabteilung haben, können wir ihren Innovationsvorsprung gemeinsam ausbauen. Die Formen der Zusammenarbeit sind dabei sehr individuell und reichen von der Beratung bis zur Entwicklung von Produktkomponenten.“
Dabei ist die Bandbreite der Fraunhofer-Forscher enorm: Die aktuellen Projekte reichen von Algorithmen zur verbesserten Tumordiagnostik in der digitalen Pathologie bis zur optimierten Positionierung von Hirnstimulations-Elektroden bei Parkinson-Patienten. Um bei diesen komplexen Themen die richtigen Partner zusammenzubringen, sei die gute Vernetzung von Klinikern, Wirtschaft und Forschung durch die Arbeit der Life Science Nord Management GmbH besonders wertvoll. „Die Agentur unterstützt uns sehr effektiv“, sagt der Professor, „und das ist ein entscheidender Faktor für wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Erfolg.“
Frühe Alzheimer-Diagnose mit der Methode der Hippocampusvolumetrie
Was entstehen kann, wenn die richtigen Partner zusammenfinden, zeigt ARDX©. Auch wenn die Methode der Hippocampusvolumetrie noch zu komplex und zu aufwändig ist, um in der allgemeinen Versorgung als Standardverfahren zur Verfügung zu stehen, wächst der Markt: „Noch sind wir Pioniere in diesem Bereich“, sagt Dr. Spies. „Aber die Technik wird zunehmend auch in spezialisierten Kliniken und von Fachärzten zur Demenzdiagnostik eingesetzt. Das weckt das Interesse anderer Unternehmen, die darin nun ebenfalls eine Chance sehen.“ Ein weiteres positives Signal: Die Beurteilung des Hippocampus als Biomarker der Alzheimer-Erkrankung wurde in den europäischen Leitlinien zur Alzheimer-Diagnostik verankert. Noch müssen Patienten für ARDX© zwar privat aufkommen, aber der Geschäftsführer von jung diagnostics ist überzeugt, dass sich der wirtschaftliche Nutzen der Methode durchsetzt: „Wenn Alzheimer-Erkrankungen mit unserem Verfahren früher diagnostiziert werden können, hilft das nicht nur den Patienten, sondern spart auch den Kostenträgern langfristig Geld.“
Bis es soweit ist, arbeiten das Forscherteam um Prof. Thiele und jung diagnostics schon am nächsten gemeinsamen Projekt: „Wir entwickeln eine Methode zur Vermessung des Rückenmarks im Bereich der Halswirbelsäule“, sagt Dr. Spies. Dort finden bei Patienten mit Multipler Sklerose krankhafte Veränderungen statt, die zu Lähmungen führen können. Da auch hier der Computer aus den Bilddaten wieder mehr herausliest als der Mensch, können diese Veränderungen frühzeitig erkannt und die Therapie entsprechend angepasst werden. Ist das ein weiterer Schritt der computergestützten Bildanalyse, irgendwann sogar den Arzt komplett zu ersetzen? „Das kann ich mir nicht vorstellen,“ sagt Prof. Thiele und auch Dr. Spies schüttelt den Kopf. „Unsere Technologie soll Mediziner bei Zeit raubenden Routine-Aufgaben entlasten und ihnen mehr Raum für anspruchsvolle Diagnosen geben. Der Faktor Mensch wird auch bei der medizinischen Bildanalyse immer eine Rolle spielen.“
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