Zukunftsbühne Kampnagel
Auf Kampnagel steht Theater für Wandel und Widerstand. Die Geschichte der Hallen illustriert jene gesellschaftlichen Prozesse, von denen viele Kampnagel-Aufführungen erzählen. 1895 als Eisenwerk Nagel & Kaemp entstanden, war die Fabrik mit dem Bau von Schiffskränen international erfolgreich. Dann kamen Container. Das Geschäft brach zusammen. Bis 1981 werden auf dem Gelände Gabelstapler gefertigt, bis das Werk endgültig stillgelegt wird. Noch heute stehen die Kräne als Überbleibsel des Industrie-Jahrhunderts auf dem Kampnagel-Gelände.
Raum für Experimente
Auf dem frei gewordenen Grundstück sollten Wohnungen entstehen. Doch hier nimmt die Geschichte eine andere Wendung: die des seltenen Glücksfalls. Als die stillgelegten Fabrikhallen an der Jarrestraße kurz vor dem Abriss stehen, wird gerade das Schauspielhaus an der Kirchenallee saniert. Vorübergehend ziehen die Regisseure, Bühnenbildner und Techniker nach Barmbek-Süd. Als sie die Hallen betreten, leuchten ihre Augen:
In der 70 Meter langen Halle mit nackten Wänden sind riesige Kunstinstallationen, weiträumige Happenings, große Distanzen, große Experimente möglich. Die wüste Industrieburg am Osterbekkanal bietet den Raum zum Wandern, zum Ausprobieren, zum Träumen. Nach dem ersten Sommertheater-Festival der freien Gruppen beschließt der Senat, die Theaterfabrik so lange stehen zu lassen, wie das Publikum es annimmt.
Mittlerweile kommt Kampnagel auf 160.000 Besucher jährlich. Auch nach der Sanierung 1998 sticht die industrielle Vergangenheit der Hallen ins Auge. Kampnagel nennt sich Produktionsstätte: Es ist kein Repertoire-Theater, an dem Schauspieler vorgeschriebene Rollen ausführen. Künstler haben die Freiheit, ihre eigenen Stoffe auf Kampnagel zu entwickeln.
Internationale Avantgarde
Freie Theatergruppen, Choreographen und Performer schätzen an Kampnagel die anarchische Atmosphäre im Saal: Die Techniker sitzen direkt im Publikum, es gibt keine Kulissen und beinahe keine Distanz zwischen Zuschauern und Bühnengeschehen. Davon ließen sich bereits Pina Bausch, John Neumeier und Peter inspirieren. Nach Barmbek-Süd kommen international gefragte Choreographen, aber auch unbekannte Theatergruppen, Aktivisten und Wissenschaftler aus aller Welt. Gesellschaftskritische Gruppen wie Geheimagentur oder Rimini-Protokoll sind regelmäßig auf Kampnagel zu Gast.
Künstlerischer Widerstand
Wenn es nach Amelie Deuflhard geht, soll Kunst „aufrütteln, verstören, betroffen machen, skandalieren.“ Deuflhard hatte vorher die Sophiensäle in Berlin geleitet und machte mit ihrer Bespielung des Palastes der Republik in Berlin von sich reden. Seit 2007 ist sie Kampnagel-Intendantin. 2014 ließ sie sechs Flüchtlinge in einem Nachbau der Roten Flora auf dem Kampnagel-Gelände überwintern, was ihr eine Strafanzeige einbrachte. Die rechtspopulistische Partei AfD warf der Intendantin Beihilfe zu illegalen Aufenthalten vor. Die Intendantin bleibt gelassen – und scheut sich nicht vor politischen Statements.
Bei Kampnagel-Produktionen ist die Wirkung oft entscheidender als Interpretation. Die Stücke, Themenschwerpunkte und Festivals porträtieren eine unübersichtliche Welt im Unruhezustand, hinterfragen politische Verhältnisse und entwerfen Zukunftskonzepte. Kampnagel ist nicht nur ein Spielort, sondern auch ein Forschungslabor sowie eine Stätte des künstlerischen Widerstandes. Und immer stehen Lebensumstände der Menschen im Mittelpunkt. Kampnagel ist der Rebelle Hamburgs, sein Gewissen und seine Zukunftsbühne.